Am Eckpfeiler des Gesäusekamms
Eine Begehung der Nordwestkante des großen Ödsteins

Christian Faltin

Manche Träume brauchen länger, um wahr zu werden. Die Ödsteinkante war für mich so ein Traum. Doch auf den grossen Ödstein trifft zu, was auch über manch grösseres Ziel schon gesagt wurde: an diesem Berg gibt es nichts zum Nulltarif. Und im Bewusstsein der Länge dieser Unternehmung hat es auch bis zum Entschluss etwas gedauert. Ende August 2002 war es dann soweit.

Blick zum Ödsteinkarturm - Westwand

Kurz nach 6h morgens verlassen Rudi und ich das im unteren Johnsbachtal abgestellte Auto und begeben uns auf die Suche nach den spärlichen roten Markierungspunkten, die uns ins Ödsteinkar leiten. Wir steigen zuerst durch Wald, dann ein Bachbett nutzend, zwischen Latschen und schließlich mühsam über lockere Schuttströme in den entlegenen, rinnenartigen Winkel unter der düsteren, 700m hohen Ödstein-Nordwand. Den Einstieg markiert ein herabhängendes Seilstück, welches die Stelle vermutlich auch bei Schneelage gut kenntlich macht. Diesmal ist der Wandfuss jedoch trocken. Während wir die Seile durchziehen, entdecken wir im Kar weitere Kletterer, die rasch näherkommen. Für die nächsten Stunden übernehmen wir beide die Routensuche, die anderen folgen uns dicht; an den Standplätzen rennt der Schmäh auf wienerisch, nieder- und oberösterreichisch, nicht unangenehm angesichts der grossartig-ernsten Umgebung.

Die Kletterschwierigkeiten sind vorerst moderat. Vor den beiden wesentlich schwierigeren Schlüsselseillängen, etwa in der Hälfte der Tour, befindet sich ein schöner Gratsattel, in dem wir kurz Pause machen. Der Ausblick ist hier schon überwältigend, vor allem auf die gegenüberliegende Westwand des Ödsteinkarturms.

Dann kommt bald der härtere Teil: Rudi führt zunächst eine Seillänge über dachartig abwärts geschichtete Platten bis zu einer Stelle, von der mehrere Varianten weiterführen, die auf unterschiedliche Weise versuchen, mit einem etwas grösseren Überhang fertig zu werden.

1. Schlüsselseillänge
2. Schlüsselseillänge

Nun bin ich dran, quere nach links über rauhe Platten, lege einen Klemmkeil, finde einen neuen Zwischenhaken, weiss dann aber fürs erste nicht mehr weiter. Einige Minuten vergehen mit Herumprobieren. Rudi hat mir später einiges über meine verbalen Äusserungen an dieser Stelle mitgeteilt… Schliesslich ist es klar: weit nach links auf einen trittbrettartigen, rissigen Vorsprung gespreizt, dann schwierig entlang mehrerer alter Haken gerade hoch, und über einen Spalt in leichteres Gelände und zum nächsten Stand.

Was dann noch folgt, ist ein langwieriges sich-Heranarbeiten an ein schräges breites Ausstiegsband, aber die Hauptschwierigkeiten liegen hinter uns. Bald haben wir Sonne. Der Ausstieg führt auf den obersten Kirchengrat, wenige Minuten vom Gipfel entfernt! Es ist 3h nachmittags. Wir ziehen die Bergschuhe an, verstauen die Klettersachen, fallen über unsere restlichen Ess- und Trinkvorräte her.

 

Auf dem Gipfelkreuz sitzen zwei Kolkraben dicht nebeneinander. Bei unserem Näherkommen gleiten sie lautlos ins Ödsteinkar hinaus, elegant, mit gespreizten, glänzend schwarzen Federn, als wollten sie allen Kletterern zeigen, wie man sich in den Bergen bewegt. Kolkraben unterscheiden sich von Alpendohlen durch ihre Grösse sowie durch die schwarzen Schnäbel und Füsse, und sie sind perfekte Kunstflieger.

Wir machen eine ausgiebige Gipfelrast, warten noch auf die nächste Seilschaft, plaudernd, fotografierend, sitzend und stehend auf der wunderschönen Gipfelplatte. Das Wetter scheint uns Zeit zu lassen, doch die Bewölkung nimmt langsam zu.

Christian und Rudi am Ödsteingipfel

Als wir uns gegen 4h an den Abstieg über den Kirchengrat machen, freue ich mich eine Zeitlang über die gute Markierung und über allerlei nette Stellen, die wir in ziemlichem Tempo abklettern. Wir passieren den blau markierten Abstieg zum Gamssteinsattel und queren den kleinen Ödstein. Dann jedoch wird der Abstieg zusehends mühsamer. Hunderte Meter Schrofengelände werden abgeklettert und der Höhenmesser belehrt uns unerbittlich darüber, wie langsam wir an Höhe verlieren. Es folgt ein etwas einfacheres Stück bis zur Johnsbacher Scharte, dann geht es nach Süden hinunter. In einer endlos scheinenden, trockenen Felsrinne wird steil hinuntergelaufen und abgeklettert, dann wechselt die Markierung in eine noch weitaus unangenehmere Nachbarrinne, wo wir mit Steilstufen, Geröll und Steinschlag noch einige Zeit herumraufen. Aber schließlich nimmt uns im Wald ein netter Weg auf.

Nach 1500 Höhenmetern wilden Abstiegs landen wir gegen 7h abends am Talboden. Der Himmel hat sich mittlerweile stark verfinstert, das Farbenspiel zwischen fahlem rosa und dunkelviolett könnte einen Maler begeistern, verheisst aber nichts Gutes. Erster Donner knattert in den Wolken. Geschwind mache ich mein beim „Ödsteinblick“ abgestelltes Fahrrad flott und flitze die immer steiler werdende Strasse talauswärts, um das Auto zurückzuholen, und das möglichst noch vor dem Gewitter.

Während ich unter den ersten Regentropfen durch Johnsbach rolle, löst sich von einem der Häuser schräg vor mir die dunkle Gestalt eines schlappohrigen fetten Hundes, dessen Jagdinstinkt plötzlich erwacht ist und der Anstalten macht, mich seitlich anzuspringen. Das hat mir noch gefehlt, unmöglich, bei dem Tempo auszuweichen, kein Helm auf dem Kopf, die Strasse schon feucht, verfluchtes Vieh! Wild entschlossen trete ich noch kräftig durch und lenke dabei stur geradeaus, der Hund ändert im letzten Augenblick die Richtung und ich bin vorbei, Krankenhaus ade!

Das Auto ist erreicht, und während ich das Rad hineinlade, bricht das Wetter so richtig los. Einigermassen durchnässt bin ich bald darauf wieder beim „Ödsteinblick“, wo Rudi schon beim Bier sitzt. Forelle essen, Bier trinken, einer nebenan lärmenden und qualmenden Raftinggruppe ausgeliefert, überdreht, aber glücklich verbringen wir den Abend und wanken dann zu Bett.

Um 3h morgens wachen wir unvermittelt auf. Meine Beine schmerzen. Rudi schaut aus dem Fenster.
„Was ist?“
„Es regnet.“
„Na, passt ja!“
Gelächter.
Ende. Schönwetter am nächsten Tag wäre doch schlimm. Man müsste in dem Zustand glatt noch eine Tour gehen…

Info

Die Ödstein-NW-Kante (erstmals begangen auf etwas anderer Route von Angelo Dibona 1910, weiteres siehe [1]) wurde neulich saniert, was eine beachtliche und dankenswerte Arbeit darstellt. Die sanierte Routenführung ist in [2] dokumentiert.

Beim Einstieg dürfte es sich nach den Beschreibungen in [1] um die Einstiegsvariante „Preuss/Relly“ handeln. Die Standplätze sind durchwegs mit je einem Bühlerhaken saniert und nicht immer leicht zu finden, denn an Zwischenhaken gibt es nur einen weiteren Bühler in der 2. Schlüsselseillänge (nach [1] ist dies die Variante „Redlich/Stefansky“) und ein paar Normalhaken, fast alle recht ehrwürdig.

Die beiden Schlüsselseillängen sind im Topo [2] für freie Kletterei mit 5 bzw. 6- bewertet. Ansonsten liegen die Schwierigkeiten nicht über 3+, dazwischen gibt es auch etwas Gehgelände.

Das Topo in [2] ist brauchbar, wenn man berücksichtigt, daß mehrere Seillängen in der Darstellung ausgelassen wurden, und zwar:

  • eine Seillänge im Bereich der dargestellten 3. Seillänge „50m, 1“ (letztere ist entweder wesentlich länger als 50m, oder wir haben einen Standhaken übersehen – gleichviel, es ist praktisch ein Band mit Gehgelände)
  • eine Seillänge im Bereich der direkt an der Kante verlaufenden Wegführung in der unteren Routenhälfte
  • eine kurze Seillänge nach dem darauffolgenden Linksquergang und Kamin „3, 50m“ (dieser  Linksquergang dient nur dazu, einige Gratbuckel zu umgehen, hinter denen sich der „gr. Absatz“ verbirgt – nicht zu früh nach links queren!)
  • eine Seillänge im Bereich der schräg links aufwärts weisenden Wegführung  nach den beiden Schlüsselseillängen. (Hier nach eineinhalb Seillängen die Rinne verlassen und auf ihrem linken Begrenzungsrücken weitergehen. Dann keinesfalls zu früh nach rechts abbiegen – mehrere Verhauermöglichkeiten – am besten nach dem Bild auf S.395 in [1] orientieren!!)

Der von uns im Abstieg begangene Kirchengrat [3] (das ist der Normalweg auf den grossen Ödstein) ist sehr mühsam, reicht stellenweise an Schwierigkeitsgrad 3 heran und sollte in keiner Weise unterschätzt werden. 

Literatur

[1] Willi End: „Alpenvereinsführer Gesäuseberge“, Rother-Verlag, 1988

[2] J. Reinmüller, A. Hollinger, M. Kohlhofer-Feichter (Mikofei): „XEIS-Auslese„, herausgegeben vom Alpinen Rettungsdienst Gesäuse, Mai 2002

[3] Willi End in „Der Gebirgsfreund“  Jg.113, Nr.1, S.8-9, Feb./März 2002

Weitere Links: „Xeis“ , Nationalpark Gesäuse , Gasthof Ödsteinblick

Text, Fotos : Christian Faltin 2002
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