Sommerkletterlager 2003 auf der Albignahütte im Bergell

Bis zu 25 Leute aus der Bergsteigergruppe und dem Forum Alpin waren in der ersten Augustwoche mit dabei.
(Bilder anklicken!   Tourendaten im Online-Tourenbuch ab 02.08.03)

Albigna
Via Steiger Einstieg
Punta d'Albigna (2824m)
Gletschertische
Ago-Couloir

„Dort ist er!“
„Wo?“
„Ja, ich seh ihn!“
„Dort, links von der großen Rampe“
„Ich seh nix!“
„Doch, ja, ich glaub dort…“

Wir stehen auf der Staumauer am Ausgang des Albignatals. Die Rede ist vom „Albignageist“, einer natürlichen Felsbildung im unteren Teil des Piz Balzet – Südwestpfeilers, die wie ein riesenhaftes Gesicht aussieht. Unsere Sonja, die Malerin, erkennt das Gesicht sofort, während einige visuell weniger Begabte es aufgeben, in der runzligen Wand etwas sehen zu wollen. Es dürfte sich um den einzigen Geist handeln, in dessen Gesicht man unter Beherrschung des oberen 7. Grades herumklettern kann. Parallel dazu geht es auch leichter, einige Tage später gehen Oliver und Andi die ganze Pfeilerroute.

In der Umgebung der Hütte finden wir ein riesiges Betätigungsfeld im Bergeller Granit vor, Routen (fast) aller Schwierigkeitsgrade, mit sehr kurzen bis sehr langen Zustiegen, im Charakter von „sehr domestiziert“ bis „absolut abenteuerlich“.

Zwei sehr gegensätzliche Erfahrungen waren für mich einerseits die „Via Steiger“ über den Nordwestpfeiler der Punta d’Albigna – früher moralisch anspruchsvoll, nach der Sanierung genussvoll zu gehen und dabei von respektabler Länge; andererseits der Weg durch die Südostseite der Ago di Sciora – den wir in Unterschätzung des Zeitaufwandes sowie der Wegfindungsprobleme nicht vollenden konnten.

Es ist einiges los auf der Via Steiger! An einem Tag hecheln unser sieben in drei Seilschaften über den Granit, wobei manche noch von Bergführern überholt werden – nicht gerade den freundlichsten Vertretern ihrer Zunft. Egal, auf dem Gipfel ist es vergessen, es ist eine herrliche Tour mit einigen beeindruckend ausgesetzten Seillängen. Die geheime Schlüsselstelle ist übrigens die Überquerung des Baches auf dem Hin- und Rückweg. Wer ihn nicht mit einigem Zeitverlust entweder am Oberlauf oder ganz unten beim Steg nimmt, wird unweigerlich nass.

Auf dem Weg zur Ago di Sciora hingegen sind wir zu zweit. Es ist kurz nach 5 Uhr morgens, als Sonja und ich von der Hütte aufbrechen, und, wie sich später herausstellt, zu spät, wenn man ohne Biwak durchkommen will. Der Rückgang des Gletschers hat das seine dazugetan. Wo man früher zügig vorankam, arbeiten wir uns jetzt mühsam durch endlosen lockeren Moränenschutt ins hintere Tal. Es vergehen Stunden, bis wir endlich um den Sockel der Punta Pioda herum in das Couloir gelangen, welches erstmals einen atemberaubenden Blick auf die Ago freigibt.

Der Einstieg in die Ostflanke gelingt uns gut, doch nach vier, fünf Seillängen finden wir den Weg nicht mehr. Eine halbe Seillänge ist teuflisch brüchig, einmal geht wenige Meter hinter mir eine zerfallende Felswuchtel ab. Mittag geht vorbei, es stellt sich heraus, dass der Rückweg weit mehr Abseillängen erfordert, als wir annahmen – ca. 200 Höhenmeter unter dem Gipfel kehren wir um. Während wir durchs Couloir absteigen, kracht es wieder einmal. Das wäre nichts besonderes, alle zehn Minuten kracht es in dieser wilden Gegend, weil irgendwo ein paar Tonnen Fels oder Eis zum Fall kommen. Doch diesmal ist es hinter uns. Während wir uns noch schreiend verständigen, dem fast horizontal fliegenden Block auszuweichen, kommt er unerwartet mit lautem Knall an einem hausgroßen, liegenden Felsen zum Stillstand, noch fünfzig Meter von uns entfernt.

Am Rückweg löst sich die Spannung im selben Maß, wie die Müdigkeit wächst, und die Gegensteigung zur Hütte wird zur Geduldsprobe. 13 Stunden und kein Gipfel, nur ein Nadelstich in die Mondlandschaft des inneren Bergells, aber die Eindrücke lassen uns nicht so bald los, ebenso der Gedanke, diese Tour unter besseren Voraussetzungen zu wiederholen und zu Ende zu bringen.

(Christian Faltin)

Ago di Sciora (3201m)

Fotos von Andi:

Fiamma
Andi auf der Fiamma
Biopfeiler - Ute in der "Via Classica"
Pizzo Frachiccio - Monika in der "Schildkröte"
Fiamma
Piz Balzet - Südwestgrat "Albignageist"
Piz Balzet - Südwestgrat "Albignageist"
Punta d'Albigna - "Moderne Zeiten"
Punta d'Albigna - "Moderne Zeiten"
Sasc Furä Hütte
Piz Badile
In der Nordkante des Piz Badile

Zwei Tage nach dem Ende des „offiziellen“ Kletterlagers: Wir sitzen zu siebent bei hochsommerlich heißem Wetter auf dem Campingplatz am Malojapass. Unser Plan ist, am Montag (da können ja nicht viele Leute sein!) über die berühmte Nordkante auf den Piz Badile zu klettern. Auf unseren Reservierungswunsch teilt uns der Hüttenwirt der Sasc Furä Hütte mit: „Alles komplett“. Zunächst sind wir ratlos. Wieso sind da soviele Leute? Und alle wollen auf den Piz Badile!

Schließlich steigen wir, zusätzlich mit Schlafsack bepackt, am Sonntag-Nachmittag vom Val Bondasca zur Hütte auf. Anfangs hat man einen tollen Blick auf die Gipfel der Scioragruppe, dann geht es schweißtreibend auf einem Wanderweg durch eine Steilwand hinauf. Nach dem Abendessen in der Hütte wandern wir weiter aufwärts zum Fuß der Piz Badile Nordkante. Dort sind die ebenen Biwakplätze schon besetzt, also richten wir uns weiter unten einen Platz her. Bei Windstille und sternenklarem Himmel schlafen wir bald tief und fest in unseren Daunenschlafsäcken.

Beim Frühstück ist noch stockfinstere Nacht. Da steigen schon die ersten Seilschaften an uns vorbei zum Einstieg hinauf. Rasch packen wir unsere Sachen und es geht seilfrei über leichte Granitplatten zum ersten Bohrhaken. Hier steht schon ein ganzer Haufen von Leuten. Zunächst klettern alle mehr oder weniger gleichzeitig. Nach ein paar Seillängen sind die Ersten schon ein ganzes Stück weiter oben. Ich klettere mit Martin und wir haben das Glück, meistens zu einem leeren Standplatz zu kommen. Hinter uns sieht es so aus, als ob eine riesige Meute hinter uns her jagt. Wir sehen oft 5, 6 oder 7 Leute gleichzeitig an einem Standplatz – zum Glück gibt es immer große geklebte Ringbohrhaken. Unsere Freunde sind da in dieser Meute die ganze Tour lang immer mitten drin. Martin und ich gönnen uns keine Pause, um unseren Vorsprung beizubehalten. Aber abgesehen vom Massenansturm ist die Nordkante eine traumhaft schöne Klettertour in bombenfestem Granit – nur eine Seillänge ist brüchig, die Route führt fast immer direkt an der Kante.

Unterwegs hat man eindrucksvolle Tiefblicke in die Nordostwand, wo wir auch ein paar Kletterern in der „Cassin-Route“ zuschauen können. Nach rund 7 Stunden Kletterzeit und 25 Seillängen, meist im 4.Schwierigkeitsgrad, stehen wir am 3308m hohen Gipfel des Piz Badile. Starker Dunst verhindert zwar eine große Fernsicht, aber bis zum Piz Bernina auf der einen und zum Comosee auf der anderen Seite sieht man recht gut.

Der Abstieg über den Normalweg durch die Südflanke ist auch recht anspruchsvoll. Abkletter- und Abseilpassagen wechseln einander ab. Wir brauchen nochmals fast 3 Stunden bis zur italienischen Gianettihütte. Auch hier gibt es keinen Lagerplatz für uns, also auf zur zweiten Biwaknacht! Vorher konsumieren wir noch das Abendmenü – es hätte allerdings eher den Namen „kleiner Imbiss“ verdient – und zahlen dafür um die Hälfte mehr als auf der Schweizer Hütte (wo man fast beliebig oft Nachschlag bekommt).

Der Dienstag wird ein langer Wandertag. Über viel Blockwerk und Schuttfelder überschreitet man zwei Pässe, um zur Sasc Furä Hütte zurückzukommen. Von der im Führer beschriebenen Eisrinne am Passo Porcelizzo ist nur noch ein kümmerlicher Rest vorhanden. Der Passo del Trubinasca sieht zunächst fast unmöglich steil aus – wie soll da ein Wanderweg drüberführen? Schließlich entpuppt sich die Steilrinne als Klettersteig über leichte Felsen. Auf der Nordseite geht es mindestens genauso steil wieder hinunter. Auf dem letzten Wegstück queren wir leicht ansteigend am westseitigen Steilhang in der Nachmittagssonne zurück zur Sasc Furä Hütte. Die Luft ist drückend heiß, absolut kein Wind. Schweißgebadet kommen wir oben an. Nach einer Pause steigen wir gleich ab zum Auto im Val Bondasca. Eine große, klassische Alpinklettertour liegt hinter uns.

Klaus

Ulli in der Nordkante des Piz Badile
Piz Badile Gipfel
In der Nordkante des Piz Badile
Piz Badile Gipfel

Texte: Klaus Adler, Christian Faltin (2003)
Fotos: Klaus Adler, Christian Faltin, Andreas Ranet
Update (2022): Ulli Fechter
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