Ortler Nordwand

von Klaus Bonazza

Seit ich bei einer meiner ersten Schitouren als Kind die Nordseite des Ortlers zu Gesicht bekommen hatte, war mir dieses gigantische Bollwerk aus Fels und Eis nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Damals erschien mir die Wand als unbesteigbar oder "Reinhold Messner und so ähnlichen Leuten vorbehalten". Dass ich jemals eine Besteigung ernsthaft in Erwägung ziehen würde, hielt ich damals für ausgeschlossen.

Als ich Jahre später selber begann, Firn- und Eiswände zu besteigen, sah ich das Ganze schon aus einem anderen Blickwinkel, die Tour schien mir aber noch "eine Nummer zu groß" zu sein. Von einem Freund aus Brixen, mit dem ich immer wieder Eis- und Hochtouren unternehme und der die Wand schon bestiegen hatte, hörte ich Horrorgeschichten. Erfahrene Bergsteiger waren in der Ortler Nordwand tödlich abgestürzt, von Lawinen erfasst worden, oder hatten sich beim Wettersturz die Zehen abgefroren. Andererseits klang die Durchschnittssteigung von 55° eher harmlos, und ich beobachtete in den letzten Jahren ein deutliches Abschmelzen der gefürchteten "Eisbalkone" im oberen Wandteil. Ich beschloss, die Wand in Angriff zu nehmen, fand aber anfangs keinen Partner für mein Unternehmen. Es vergingen zwei Jahre, eine lange Zeit, in der ich viele andere Touren unternahm, die teilweise technisch viel schwieriger waren als die eher flache Ortler Nordwand.

So verlor die Wand viel von ihrem Schrecken. Ich begann, unkonventionelle Pläne zu schmieden, dachte an einen Alleingang oder eine Winterbesteigung, die Traumwand aus der Kindheit durfte mir nicht zu leicht ins Körbchen fallen.

Dann lernte ich Markus Gschwendt kennen, ich erzählte ihm von meinem Vorhaben, gemeinsam packte uns die Abenteuerlust, und wir brachen schließlich am 20. November 2005 zum Ortler auf.

Das Wetter war nicht stabil, aber die Alpensüdseite war durch Nordfön wetterbegünstigt. Es lag frischer Pulverschnee, nur die Wand präsentierte sich fast völlig blank. Die Verhältnisse waren also winterlich, obwohl laut Kalender der Winter noch nicht angefangen hatte. Markus und ich waren hoch motiviert und fest entschlossen.

Der Weg zur Tabarettahütte war großteils schneefrei, bei bitterer Kälte und Sonnenschein stiegen wir gemütlich hoch, um es uns im Winterraum bequem zu machen. Kritisch beobachteten wir die Verhältnisse in der Wand, und besonders die etwas flacheren Hänge oberhalb der Wand, wo sich Triebschnee angesammelt hatte, waren mir ein Dorn im Auge. Wir diskutierten gerade darüber, ob wir bei dieser Lawinensituation nicht doch besser verzichten sollten, da klärte sich die Frage plötzlich von selbst: Eine große Pulverschneelawine donnerte von ganz oben zu Tal und hüllte die gesamte Nordwand minutenlang in eine Schneewolke.
 

 

Nun war alles unten, der Weg war frei.

Die Nacht war kalt. Beim Aufbruch von der Hütte um 3.30 Uhr schätzten wir -25°, es sollte auch tagsüber nicht wärmer werden. Der Zustieg begann mit einer Querung durch felsiges Gelände. Wir verloren kurz den Weg, wodurch wir uns eine kurze Kletterstelle einhandelten, die im Nachhinein gesehen vermeidbar gewesen wäre. Von dort an ging ich vor, denn mir lag viel daran, noch vor Tagesanbruch den "Flaschenhals", eine berüchtigte Engstelle, wo man dem Eisschlag und den Lawinen besonders stark ausgesetzt ist, hinter mich zu bringen. Kurz bevor es hell wurde befand ich mich oberhalb der kritischen Stelle und baute einen soliden Stand. Ich wartete lange. Inzwischen hatte der eiskalte Nordwind lebhaft aufgefrischt und auf den Graten waren Schneefahnen zu sehen, ein wunderschöner Anblick - wenn es nur nicht so kalt  gewesen wäre! Während ich mir frierend die Gegend ansah, Sulden tief unter uns, gegenüber die Vertainspitze, deren rassige Nordwand ich ein Jahr zuvor bestiegen hatte, in der Ferne der Alpenhauptkamm mit einer markanten Fönmauer, von der sich von Zeit zu Zeit kleine Wolkenfetzen ablösten und für einige Minuten den Ortler einhüllten, das alles natürlich im Rot des Sonnenaufgangs, und während ich vergeblich versuchte, die Batterien  meines Fotoapparates aufzuwärmen, um wieder fotografieren zu können, gingen mir auch andere Gedanken durch den Kopf: Herrscht im oberen Wandteil Lawinengefahr? Ist es nicht schon ganz schön spät? Sollen wir über den Hintergrat oder über die Payerhütte absteigen? Als dann auch Markus daherkam, ließ ich ihm das Ende des Seils hinunter, damit er sich einbinden konnte. Von nun an gingen wir angeseilt in Wechselführung. Langsam kehrte das Gefühl in meine tauben Zehen zurück. An einigen Stellen war das Eis überraschend gut, meist aber brutal hart und spröde. Das Setzen einer Eisschraube war meist ein minutenlanger Kampf und noch schlimmer war das Entfernen des Eispfropfens nach dem mühsamen Herausdrehen. Deshalb setzten wir nur sehr wenige Zwischensicherungen, meist nur eine pro Seillänge. Wir kamen nur langsam voran. Die Eisoberfläche löste sich bei jedem Pickelschlag in großen Schollen, was das Klettern ziemlich heikel gestaltete. Eine Seillänge fand ich besonders kraftraubend, weil sie 70° steil und besonders spröde war. Hier machte ich den Vorstieg und brach dabei mit Sicherheit keinen Geschwindigkeitsrekord. Zuvor hatte Markus in einer flachen Seillänge mit unangenehmem Pulverschnee viel Zeit verloren, sodass es nun wirklich spät war. Ich machte den Vorschlag, ab jetzt nur mehr am laufenden Seil mit Zwischensicherungen zu gehen, um Zeit zu sparen, doch diese Idee kam nicht so richtig an. Der schwierigste Teil lag jetzt hinter uns, wir kletterten noch 3 Seillängen in 50°-55° steilem Gelände, dann wurde es  flacher. Zu meiner großen Erleichterung herrschte hier keine Lawinengefahr und der windgepresste Schnee ermöglichte uns ein zügiges Vorankommen.

 Kurz darauf erreichten wir den Gipfel. Welch ein Moment! Wir hatten es geschafft, für mich war ein Traum in Erfüllung gegangen!

Inzwischen war es 14.30 Uhr, die Kälte machte uns zu schaffen und starkes Schneetreiben schränkte die Sicht ein. Bei diesem Sturm verzichtete ich sogar auf einen Eintrag ins Gipfelbuch, schnell entschieden wir uns für den Abstieg über den Normalweg. Dieser ist zwar im Winter weniger leicht zu finden als der Hintergrat, doch liegt eine Biwakschachtel am Weg. Wir mussten spuren, was aber abwärts recht schnell ging. Je tiefer wir kamen, desto häufiger wurden die Sichtfenster und so fanden wir den richtigen Weg zwischen den offenen Spalten hindurch zum Grat, auf dem die Biwakschachtel steht. Ohne Pause ging es weiter, denn das letzte Tageslicht musste ausgenutzt werden. Erst ging es einen einfachen Grat entlang, dann eine klettersteigähnliche Kette, das so genannte "Wandl",  hinunter. Hier mussten wir uns abseilen, da die Ketten unter dem Schnee versteckt waren. Jetzt wurde es dunkel. Glücklicherweise fanden wir immer wieder alte Spuren im Schnee und manchmal entdeckte ich an abgeblasenen Stellen auch rote Markierungen. Trotzdem verloren wir immer wieder den kompliziert verwinkelten Weg. Die meiste Zeit gingen wir am "Kurzen Seil", nur einmal musste ich Markus am eingerammten Pickel sichern. Zahlreiche Minischneebretter forderten größte Vorsicht im Absturzgelände und letztendlich erreichten wir die Payerhütte von einer nicht vorgesehenen Seite. Von dort an war eine durchgehend erkennbare Spur vorhanden, die wir bis zur Tabarettahütte hinunter  verfolgten. Dort schmolzen wir uns noch ein Wasser mit unserem Gaskocher und setzten bald danach den Abstieg fort. Um 10.30 Uhr erreichten wir müde aber glücklich das Auto.

In einem Punkt waren wir uns einig: Die Mühe hat sich gelohnt.
 

 
 


Update 29.8.06  Christian Faltin